„Derzeit trifft im österreichischen Gesundheitssystem eine Reihe von heiklen Fehlentwicklungen zusammen: Personalknappheit in den Spitälern, Austrocknen des niedergelassenen Bereichs, Pensionswelle bei Ärzten, ausbleibender Ärztenachwuchs infolge unattraktiver beruflicher Rahmenbedingungen und ein problematischer Sparkurs namens ‚Kostendämpfungspfad'“, sagte Johannes Steinhart, Obmann der Bundeskurie Niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), Donnerstag bei einer Pressekonferenz. „Die aktuellen Probleme bei der Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie in den Spitälern bringen jetzt das Fass zum Überlaufen.“
Die jahrelange Missachtung der EU-Arbeitszeitrichtlinie mit anschließender schwerer Rüge habe „ein Schneebrett losgetreten, das zu einer regelrechten Lawine in unserem Versorgungssystem anwachsen wird: Spitäler werden zahlreiche Leistungen nicht mehr erbringen können. Die Patienten werden daher versuchen, in den niedergelassenen Bereich auszuweichen, der sie aber nicht zur Gänze auffangen kann. Viele von ihnen werden daher zwischen diesen beiden Bereichen der Versorgung durchfallen“, prognostiziert Steinhart.
Eine Arbeitszeitreduktion bei Spitalsärzten von 60 auf 48 Wochenstunden bedeute ein Minus von 20 Prozent, von dem man im Detail noch nicht wissen könne, wie stark negativ es sich kurz- und mittelfristig auf die Leistungsfähigkeit der Spitäler auswirken werde. Das AKH Wien zum Beispiel, so sei bereits bekannt geworden, werde Kapazitäten in den OP-Sälen um zehn bis 15 Prozent reduzieren. Das bedeute um 3.560 bis 5.340 Operationen pro Jahr weniger. Wie sich die Gesetzesnovelle auf die Ambulanzleistungen des Hauses auswirken werde, sei im Detail noch nicht abzusehen. Vergleichbare Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit anderer Spitäler seien wahrscheinlich.
Allein 2013 erbrachten Österreichs Spitäler bei stationären Aufenthalten insgesamt 4,766.736 medizinische Leistungen, davon sind drei Viertel nichtoperative Leistungen. Dazu kommen 17,2 Millionen Ambulanzfälle. Wie sich eine Reduktion dieser Leistungen auf den niedergelassenen Bereich auswirken wird, ist noch unklar. Werden zum Beispiel die Ambulanzleistungen um nur zehn Prozent zurückgefahren, bedeutet das 1,72 Millionen Ambulanzfälle, die nicht mehr im Spital versorgt werden. Steinhart: „Wohin sollen sich Patienten – zumindest jene, bei deren Krankheit und Versorgungsbedarf das überhaupt möglich ist – wenden, außer an die niedergelassenen Ärzte? Es ist also mit einem massiven Ausweichen der Patienten auf die Arztpraxen zu rechnen.“
Ein gut ausgestatteter niedergelassener Bereich könnte die jetzt in Bedrängnis geratenen Spitäler wirksam entlasten. „Doch so einen gut aufgestellten niedergelassenen Bereich gibt es in Österreich nicht, weil die niedergelassenen Ärzte in Österreich von Gesundheitspolitik und Bürokratie seit Jahren behindert werden“, so Steinhart. „Die Ärztekammer warnt seit Jahren vor den Folgen des Ärztemangels, doch ohne entsprechende Reaktionen der bisher politisch Verantwortlichen.“
Als Anwälte der Patienteninteressen fordern wir dringend ein wirksames Paket zur Krisenintervention, um die aktuellen Fehlentwicklungen zu bremsen und um den drohenden Ansturm auf die Arztpraxen in einigermaßen geordnete Bahnen zu lenken“, so Steinhart. Dieses Paket müsse unter anderem die folgenden Maßnahmen umfassen:
1. Zusätzlich mindestens 1300 Arztpraxen mit Kassenvertrag
Es gibt heute um rund 900 niedergelassene Kassenärzte weniger als im Jahr 2000, und das bei gleichzeitig steigender Bevölkerungszahl. Das Nachsehen haben hier in besonderem Ausmaß Menschen, die auf eine „Medizin auf e-card“ angewiesen sind, weil sie sich eine private Medizin nicht leisten können. Steinhart: „Österreich braucht deshalb mindestens 1300 Arztpraxen mit Kassenvertrag zusätzlich, davon allein 300 in Wien, um die Spitäler zu entlasten und um wieder auf den Versorgungsstand des Jahres 2000 zu kommen.“
2. Sofortige Aufhebung sämtlicher Deckelungen
Im niedergelassenen Bereich gibt es nicht nur zu wenige Ärzte, sondern auch eine Reihe struktureller Probleme, zum Beispiel bei der Honorierung: Wurde in einer Kassenordination eine bestimmte Anzahl von Patienten betreut, treten so genannte Deckelungen in Kraft. Auch das kann, neben der Tatsache der Ärzteknappheit im niedergelassenen Bereich, die Wartezeiten auf Untersuchungstermine verlängern. Steinhart: „Es bedarf deshalb der sofortigen Aufhebung aller Deckelungen.“
3. Sofortige Aussetzung zeitraubender Bürokratie in den Ordinationen
Niedergelassene Ärzte verbringen rund acht Stunden pro Woche mit Verwaltungsaufwand – das legen Zahlen aus Deutschland nahe, die sich in ihrer Größenordnung wohl auf Österreich übertragen lassen. Beträchtlich ist zum Beispiel der bürokratische Aufwand für die Formular- und Antragsflut, für die Chefarztpflicht und das Arzneimittel-Bewilligungs-System (ABS). All das kostet Ärzte wertvolle Zeit, die bei der Versorgung von Patienten fehlt. „Wir fordern deshalb die sofortige Aussetzung zeitraubender Bürokratie in den Ordinationen“, so Steinhart.
Das Argument, es seien keine zusätzlichen Mittel für das Gesundheitssystem vorhanden, sei unzutreffend, betonte Steinhart: Das Geld sei da, bloß sei es bei einigen Kassen gebunkert. So halte der Rechnungshof in seinem Bericht „Vermögensmanagement ausgewählter Kranken- und Unfallversicherungsträger“ (2014) fest, dass alle Sozialversicherungsträger Österreichs gemeinsam im Jahr 2013 insgesamt über ein Reinvermögen von 5,55 Milliarden Euro verfügten. Das Finanzvermögen betrug 3,835 Milliarden, davon 1,022 Milliarden in Wertpapieren und 2,813 Milliarden in Einlagen.
„Krankenkassen sind allerdings von ihrem Auftrag her weder Sparvereine noch Aktienhändler oder Investoren, sondern sollen die bestmögliche medizinische Versorgung für die Bürger finanzieren. Österreichs Gesundheitsversorgung braucht in der aktuellen Situation einen Investitionsschub, keinen Sparkurs“, erklärte Steinhart. „Gebunkertes Geld der Sozialversicherungen muss deshalb dafür eingesetzt werden, die Versorgungskrise in den Griff zu bekommen. Jetzt ist die Politik gefordert, den Sozialversicherungen entsprechende Vorgaben zu machen, wie ihre Milliardenvermögen im Sinne der Patienten eingesetzt werden sollen.“